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Ein Spaziergang durch die Zeit – Seewald, Tettnanger Wald und Laimnau

  • Autorenbild: O Peregrino
    O Peregrino
  • 21. März
  • 3 Min. Lesezeit

Es gab eine Zeit, da waren diese Wälder Jürgens tägliche Begleiter. Damals begann der Tag vor Sonnenaufgang – um fünf Uhr morgens, im Dunkeln den Trainingsanzug angezogen, und dann hinaus in die kühle Morgenluft. Seine Füße kannten den Weg auswendig: durch den Seewald, in den Tettnanger Wald, auf verschlungenen Pfaden bis ins zwanzig Kilometer entfernte Laimnau. Nach dem langen Lauf schlenderte er zurück und genoss den lebendigen Atem des Waldes – den Duft feuchter Erde, den Gesang der Vögel, das Rascheln unsichtbarer Lebewesen. Egal zu welcher Jahreszeit, am Ende wartete ein kaltes Bad, ein Ritual der Erneuerung.



Jetzt, viele Jahre später, im Jahr 2019, hatte sich der Rhythmus geändert. Die Schritte waren langsamer, nun teilte er sie mit seinem Sohn Huayna. Dieselben geliebten Wälder erstreckten sich vor ihnen, doch diesmal nicht als Herausforderung, sondern als Einladung, sich zu erinnern, genauer hinzuschauen und einfach zu sein.


Sie machten sich auf den Weg auf den alten Pfad, ihre Wanderung wurde nur kurz von kurzen Abschnitten asphaltierter Straße unterbrochen. Nachdem sie die stillen Tiefen des Seewalds durchquert hatten, erreichten sie eine kleine alte Holzbrücke. Auf der anderen Seite begrüßte sie ein kleiner Rastplatz. Sie machten ihre erste Pause und teilten sich einen knackigen Apfel, dessen schlichte Süße ein kleiner Genuss inmitten des tiefen Grüns und Brauns des Waldes war.


Während sie rasteten, wanderten sie in der Nähe umher und beugten sich tief, um nach kleinen Wundern zu suchen – Blumen, die sich durch das Laub drängen, leuchtende Insekten, die sich an Grashalmen festklammern, winzige, zarte Welten, die den meisten verborgen blieben.



Ihr Weg führte sie weiter durch den Tettnanger Wald, immer tiefer, bis sie das letzte Stück erreichten: einen steilen Anstieg. Mit ruhigem Atem stiegen sie hinauf zu zwei alten Bänken und einem großen Holzkreuz, das wie ein stiller Wächter über der Landschaft thronte. Auf dem Gipfel hielten sie inne. Vor ihnen erstreckte sich das Dorf Laimnau, in der Ferne blitzte der wilde Fluss Argen, und dahinter erhob sich die neblige Majestät der Allgäuer Alpen am Horizont. Es war ein Anblick, der Erde, Wasser und Himmel zu einer großen, atmenden Präsenz zu vereinen schien.


Hier holte Jürgen zwei Zigarren hervor, die er mitgebracht hatte – eine kleine Zeremonie, eine kleine Unterweisung. Er zeigte Huayna, wie man richtig raucht, nicht hastig, sondern mit Bedacht. Sie saßen still da, der Rauch stieg in die kühle Luft, und sie opferten ihn im Geiste den indigenen Völkern der Welt und in Erinnerung an die Lehren Jesu Christi – ein stiller Akt des Respekts über Zeit und Tradition hinweg.



Auf dem Rückweg zogen sie erneut durch den Tettnanger Wald, bis sie zu einem bescheidenen Steindenkmal kamen. Dort waren drei Namen eingraviert. Einer davon war Karl Kobel – Jürgens Großvater, Huaynas Urgroßvater. Jürgen hatte ihn nie persönlich gekannt, doch die Geschichten seines Vaters hielten die Erinnerung an ihn wach: einen erfahrenen Piloten, der einst Schau- und Demonstrationsflüge für die Firma Dornier flog, bis ihn das Schicksal – und vielleicht auch der Geist der Lüfte – genau hier, in der Nähe dieses Ortes, abstürzte. Seine beiden Kollegen sollten in den folgenden Jahren dasselbe Schicksal erleiden.


Sie zündeten am Fuße des Denkmals eine kleine Bienenwachskerze an, deren sanfte Flamme in der Stille des Waldes flackern sollte. Es war ein kleiner, beständiger Akt des Gedenkens – für Karl, für die anderen und für all die unsichtbaren Fäden, die die Lebenden mit denen verbinden, die vor uns kamen.


Nach einigen Augenblicken der Stille machten sie sich mit leichteren Schritten auf den Heimweg, die Last des Tages ruhte sanft auf ihren Schultern.


Publiziert: 04/05/2025

 
 
 

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