Ein neues Zuhause im Seewald
- O Peregrino
- 3. März
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen
Nur wenige Schritte von Jürgens einst geliebtem Riedlewald entfernt – heute offiziell Riedlepark genannt und vom „Fortschritt“ gezeichnet – lag ein weiteres Gebiet, das tief vom Zweiten Weltkrieg gezeichnet war. Dort, wo Bomben einst tiefe Wunden in die Erde gerissen hatten, hatte sich die Natur still und geduldig erholt. In den Bombenkratern sammelte sich kristallklares Wasser, Schilf wuchs dicht und üppig, und kleine Schrebergärten blühten ringsum. Die Menschen pflegten diese kleinen Grünflächen und bereicherten ihre Mahlzeiten mit selbst angebautem Gemüse und Obst. Im Wasser und im Schilf blühte das Leben: Fische huschten umher, Frösche sangen ihre Abendlieder, Molche glitten lautlos unter die Oberfläche, Libellen glitzerten in der Sonne und Spinnen spannen ihre zarten Netze. Jürgen erinnerte sich sogar daran, einmal einen Feuersalamander gefunden zu haben, schwarz und golden wie ein lebendiges Juwel.

Doch wie so oft fiel auch dieses kleine Paradies schließlich der „modernen Entwicklung“ zum Opfer. Die Gärten und Teiche wurden unter Beton und Asphalt begraben. An ihrer Stelle entstanden nun ein riesiger Parkplatz und ein Industriegelände – ein neuerlicher Schlag für die Seele des Jungen, der einst in jeder Ecke dieses Ortes Magie gesehen hatte.
Nach der Scheidung seiner Eltern zog Jürgen mit seiner Mutter in ein anderes Zuhause, weiter weg von den Narben der Zerstörung und näher an der Hoffnung. Von dort war es nur ein kurzer Spaziergang zum Eriskircher Ried, einem wertvollen Naturschutzgebiet, und zum Seewald – einem weiteren Wald, der ihm bald ans Herz wuchs.

Viele Jahrzehnte später, im Jahr 2019, kehrte Jürgen auf dieselben Pfade zurück, diesmal mit seinem Sohn Huayna an seiner Seite. Sie wanderten durch den Seewald, wo die Bäume noch stolz standen und die Wege sich vertraut anfühlten, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Kurz nach seiner Ankunft in Deutschland hatte Huayna Geburtstag gefeiert. Jürgens Mutter hatte ihm etwas Besonderes geschenkt: eine Slackline – ein breites, robustes Stoffband, das zwischen zwei Bäumen gespannt war und waghalsige Akrobaten dazu einlud, darüber zu balancieren.
Nun, mit dem stillen Publikum des Waldes, war es Zeit, sie auszuprobieren.
Jürgen half, die Slackline zwischen zwei massiven Bäumen zu befestigen. Huayna kletterte grinsend als Erster darauf. Mit ausgestreckten Armen und einem Ausdruck höchster Konzentration bewegte er sich vorsichtig Schritt für Schritt. Es war, als sprächen das Band und sein Körper dieselbe Sprache – sanft im Wind schwankend, aber stets aufrecht.
Jürgen beobachtete sie mit Bewunderung (und einem Hauch Neid). Natürlich konnte er nicht widerstehen, es selbst zu versuchen. Mit entschlossenem Blick trat er auf die Leine … und landete nach ein paar heldenhaften Sekunden des Wackelns und wilden Armfuchtelns lachend sanft im Gras.
So verbrachten sie zwei glückliche Stunden – lachend, sich gegenseitig herausfordernd und sich über jeden kleinen Erfolg freuend.

Als sie die Slackline endlich zusammenpackten, begann der Wald im sanften Licht des Nachmittags zu leuchten. Die Luft war erfüllt vom Duft von Erde, Moos und Kiefern. Sie schlenderten langsam nach Hause und genossen die Ruhe, das Grün und die schlichte, unersetzliche Freude, die sie gemeinsam unter uralten Bäumen verbrachten.

Für Jürgen war es eine Heimkehr. Für Huayna war es der Beginn seiner eigenen Bindung zum Seewald – ein neues, kleines Zuhause, in dem Vergangenheit und Gegenwart friedlich nebeneinander existieren konnten.
Publiziert: 09/05/2025
Comments