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Das Eriskircher Ried

  • Autorenbild: O Peregrino
    O Peregrino
  • 30. März
  • 2 Min. Lesezeit

Im Mai erwachte das Eriskircher Ried bei Friedrichshafen zu neuem Leben. Wildblumen blühten in den Feuchtgebieten in allen Farben, und die Brise trug den Duft von frischem Wasser und Erde herüber. Vögel kreisten über ihm, ihre Rufe hallten in der Stille wider.


Jürgen ging langsam den vertrauten Weg entlang, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er war hier aufgewachsen, in dieser Ecke Süddeutschlands, wo der Bodensee den Himmel berührt. Jede Biegung des Weges, jede Weide im Schilf hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Doch heute war es anders. Heute ging er nicht allein. An seiner Seite war sein Sohn Huayna – geboren im fernen Brasilien, unter dem weiten Himmel Südamerikas.

Er war zum ersten Mal im Eriskircher Ried. Die Landschaft war neu für ihn, ungewohnt, aber nicht unwillkommen. Er bewegte sich mit stiller Neugier, nahm das Rascheln des hohen Grases, die spiegelglatte Wasseroberfläche und das blassgrüne Licht wahr, das durch die Bäume fiel.


„Hierher bin ich als Junge immer gekommen“, sagte Jürgen leise, seine Stimme erfüllt von etwas zwischen Stolz und Sehnsucht. „Vor der Schule, nach den Hausaufgaben … manchmal einfach zum Nachdenken.“


Huayna antwortete nicht sofort. Er lauschte – nicht nur seinem Vater, sondern dem Land selbst. Obwohl er in den dichten Wäldern und Flüssen Brasiliens aufgewachsen war, berührte ihn etwas an diesem Ort. Vielleicht war es die Art, wie das Land langsam und geduldig zu atmen schien, oder die Art, wie der Wind Stimmen trug, die keine richtigen Stimmen waren.



Unterwegs zeigte Jürgen auf Pflanzen, an die er sich erinnerte, auf die kleinen Vögel, die im Schilf nisteten, und auf die stillen Tümpel, in denen abends einst Frösche sangen. Huayna stellte Fragen – nicht viele, aber genug. Er erfuhr mehr als nur Fakten; er erfuhr die Erinnerungen seines Vaters und den unsichtbaren Faden, der sie mit diesem Land verband.


Als sie eine Lichtung erreichten, wo das Licht wie Gold über das Feuchtgebiet fiel, hatte sich etwas verändert. Sie blieben einen Moment stehen, ohne zu sprechen. Es war nicht nötig.


In diesem Moment war das Eriskircher Ried nicht mehr nur Teil von Jürgens Vergangenheit. Es war auch Teil von Huaynas Geschichte geworden.



Publiziert: 29/04/2025

 
 
 

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